eine Welt, andre Welt

Ich reise jeden Tag, von einer Welt in die andere.
Seit 7 Monaten lebe ich jetzt in der selben Stadt. Das Haus meiner wundervollen Gastfamilie ist zu einem zweiten Zuhause , die Familie zu einem wunderbaren Ersatz geworden, der mich voruebergehend meine Sehnsucht vergessen laesst. Die Strassen zum Bus und der Weg ins Projekt sind schon lange gewohnte Umgebung. Der Busfahrer kennt mein Gesicht, weiss wo ich aussteige, die alte Frau im Kiosk an der Ecke oeffnet jeden Morgen ihre Rolladen, wenn ich vorbeilaufe.
Jeden Tag mach ich mich auf die Reise ans andere Ende der Stadt.
35 km sind keine Distanz, bei langem  nicht so weit wie von hier nach Europa, hoehenunterschiedlich wie vom Fuss eines Berges  bis an seine Spitze oder gegensaetzlich wie jede Reise aus tiefstem Dschungel bis in die Sahara. Und doch koennten jene beiden Ziele nicht unterschiedlicher sein. Ich reise aus der einen in die andere, einzigartig ist jede fuer sich und doch liegen sie so nah beieinander.
Dass mein perfektes brasilianisches Zuhause -zentrumnah, in schoener Strasse- Teil der selben Stadt ist, in der auch das Viertel unsrer Kinder liegt, musste man mir sagen, sonst haette ich es nicht geglaubt.
Ich reise jeden Tag von einer Welt in die andere.
Morgens um sieben laufe ich durch unsre schoene Strasse, an bluhenden Baeumen und bunt gestrichenen Haeusern vorbei. Hier ein Herrchen auf morgentlichem Spaziergang mit seinem reinrassigen besten Freund, dort ein Jogger im Fitnessrausch vor der Arbeit. Ich nehme den Bus an eine der Hauptverkehrsstrassen, die schon so frueh gut besucht. Vorbei an Mensche die auf dem Weg zur Arbeit sind, Kindern die zur Schule gebracht werden, Laeden die oeffnen.

30 Minuten spaeter haelt mein Bus zum letzen Mal an letzter Station seiner Route. Endstation Rubem Berta, Endstation fuer mich. Ich steige aus und laufe die Strasse hinauf, vorbei an einer Handvoll Strassenhunden, an Muell Muell Muell am Bordsteinrand, an Pfuetzen und immer wieder Pfuetzen auf matschig, unasphaltierten Strassen, die der Regen von gestern -von vorgestern- gelassen. Ich trage mein blaues Projektshirt, das Namensschild um den Hals drueckt mir den Erzieher-Stempel auf. Und doch alle Augen offen. Ein Mann laeuft vorbei im letzten Hemd ohne Schuhe.

„Rubem Berta, Bevölkerung: 80 000.
Da der Drogenhandel sich zwischen verschiedenen Banden aufteilt, handelt es sich um ein Gebiet mit eröhter Mord- und Diebstahlrate“
„Mario Quintana, Bevölkerung: 25 000
10 Stadtteile werden von mehreren Drogenbanden umkämpft, was zu blutigen Konlfikten mit vielen Todesfällen führt“

Ich warte an der Haltestation, die eigentlich keine ist. Maenner auf Pferdekutschen traben vorbei, vollbepackt mit bestem Muell, kehren zurueck von naechtlicher Sammlung. Ein alter VW faehrt vorbei, neulackiert mit auffaellig wertvollen Felgen. Dann nehme ich den Bus aus dem Viertel, kostenlos, denn fuer Anwohner nicht zu bezahlen, dreckig und quietschend, ausrangiert aus „normalem“ Betrieb bringt er mich in die Favela Mario Quintana. Graffiti an den Waenden, Kaugummis unter den Sitzen. Ab und zu ein Hund auf der Strasse, „aus dem Weg!“ schreit die Hupe ihn an. Raus aus dem Bus und rein ins Projekt, sicher hintem Tor, sicher hinter Zaeunen, Zeit und Kopf und Herz fuer die Kinder.

Und nach jedem langen Tag dann, gegen halb sechs, wenn die Kinder nach Hause gehen muessen, ob sie wollen oder nicht, gehe auch ich. Erschoepft vom vielen Aufpassen, vom vielen Spielen, erschoepft vom Zuhoeren und Nachfragen. Gluecklich uber alles was ich geben konnte, dankbar fuer alles was ich erhalten habe. Mueden Schrittes geht es zurueck an die Bushaltestelle. Mit dem Bus dann hinaus aus einer Welt, die sich mit jeder hinter uns gelassenen Strasse wandelt und wandelt. Zusammengeschusterte Holzhuetten werden zu Haeusern mit Fundament, Matschwege verschwinden, Asphalt weist den Weg nach Hause, Die Menschen tauschen Plastikflipflops mit festem Schuhwerk, Kleidung die funktionert mit Kleidung die in Mode ist. Mit dem Bus hinaus aus einer Welt, die, zurueck in meiner Strasse, so unvorstellbar und unwirklich scheint wie noch an diesem Morgen. Wohin es morgen geht? Das kannst du dir nicht vorstellen.

Ein Kommentar (+deinen hinzufügen?)

  1. Onkel Bernd
    Mär 31, 2011 @ 13:11:32

    Liebe Linda,
    mir gefällt wie du deine Erlebnisse schreibst.
    Gruß Onkel Bernd

    PS.:am 6.4. kommen deine Eltern nach Leipzig,freue mich schon….

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